Fernand Braudel in Mainz 1940–1942

Organisatoren
Institut Français, Mainz; Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, Mainz; Institut français d’histoire en Allemagne, Frankfurt am Main
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.09.2013 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Katharina Niederau, Mainz

Fernand Braudels monumentales Werk „La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II“ (erstmals 1949, bearbeitet 1966) ist als Teil des Kanons der Schule der „Annales“ in Deutschland hinlänglich bekannt. Dies gilt jedoch weniger für dessen Entstehungskontext, Braudels mehrjährige Haftzeit in deutschen Kriegsgefangenenlagern in Mainz und Lübeck während des Zweiten Weltkriegs. Eine von Peter Schöttler herausgegebene Edition von Braudels Vorlesungen für die Mainzer und Lübecker „Lageruniversitäten“ erhellte erst vor kurzem das gedankliche Umfeld dieses Textes für ein deutsches Publikum.1 Aus diesem Anlass veranstalteten das Institut Français (Mainz), das Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (Mainz) und das Institut français d’histoire en Allemagne (Frankfurt am Main) am 24. September 2013 ein öffentliches deutsch-französisches Kolloquium unter dem Titel „Fernand Braudel in Mainz 1940–1942“. In diesem Sinne wurde gefragt, welche Rolle der konkrete Entstehungsort für Braudels Werke der frühen 1940er Jahre spielte. Ergänzend ließ sich anhand von „La Méditerranée“, den genannten Vorlesungen und weiteren Werken die Arbeitsweise Braudels genauer untersuchen, vor allem deren Ansatzpunkte für eine transnationale und globale Geschichtsschreibung.

Nach der Begrüßung durch die Veranstalter Thibaut de Champris (Institut Français Mainz), Johannes Paulmann (Mainz) und Pierre Monnet (Frankfurt am Main) beleuchtete PETER SCHÖTTLER (Paris / Berlin) Braudels Zeit in der deutschen Kriegsgefangenschaft und ihre Bedeutung für seine Geschichtsschreibung. Dabei skizzierte er einerseits äußere Umstände und Unwägbarkeiten, wie die Zugänglichkeit zu deutschen Bibliotheksbeständen aufgrund von Braudels Status als Rektor der Mainzer Lageruniversität. Dazugehört habe auch die bisher unbekannte Mitwirkung des Oberkommandos der Wehrmacht bei der Versendung seiner umfangreichen, in Dutzenden Schulheften gesammelten Notizen zu „La Méditerranée“ an Lucien Febvre in Paris. Anhand von Braudels Vorlesungen für die Lageruniversität eröffnete Schöttler andererseits einen Blick auf dessen Selbstverständnis als Historiker. Als ungewöhnlich für seine Zeit beurteilte Schöttler die programmatische Festlegung Braudels auf die Strukturgeschichte und die Übernahme sozial- und naturwissenschaftlicher Methoden. Ebenso erstaunlich sei der „Parallelismus zwischen Programm und Ausführung“ – zwischen den theoretischen Reflexionen in seinen Kriegsvorlesungen und deren Umsetzung im Mittelmeerbuch. Insofern wertete Schöttler die im französischen Original bisher wenig beachteten Vorlesungsmanuskripte auch ihrem Inhalt nach als „Entdeckung“ und wegweisende Etappe in der modernen Geschichtswissenschaft.

WOLFGANG KAISER (Paris) fragte anschließend nach der gegenwärtigen Rezeption von Braudels „La Méditerranée“ unter Fachhistorikern. Er hob die kontinuierliche Relevanz des Werkes hervor, verwies dafür aber nicht nur auf direkte Anschlussversuche, sondern auch auf die Dominanz von kritischer Reflexion und Weiterentwicklung der Braudel’schen Konzepte. So stelle die Berücksichtigung ökologischer Umstände von menschlichem Handeln ein teilweise explizites, teilweise implizites Weiterwirken von Braudels „géohistoire“ dar. Davon unterschied Kaiser das Nachdenken über die Gestalt, Abgrenzung und Funktion des analytischen Konzepts „Mittelmeer“ vor dem Hintergrund von gewandelten Raumverständnissen, neuer See- und Globalgeschichte. Nur noch in Ansätzen vorhanden sei Braudels emphatisch-metaphorisches Bild vom Mittelmeer als lebensweltlicher Einheit räumlich fragmentierter Regionen. Stattdessen betone die Forschung die hochkomplexen Austauschbeziehungen innerhalb des Mittelmeerraumes (gedeutet als pragmatische Zusammenarbeit („connectedness“) oder antagonistische Ergänzung) und zwischen dem Mittelmeerraum und anderen Weltteilen. Das Konzept „Mittelmeer“ werde dadurch einerseits „formalisiert“ und auf andere, teilweise nicht-maritime Weltregionen übertragbar gemacht (Indischer Ozean, Sahara), andererseits tendenziell entgrenzt.

GUILLAUME GARNER (Lyon) stellte die Frage, inwiefern sich mit Braudels Konzepten „Globalisierung“ denken und erklären lasse. Dazu stellte er Braudels Werk „Civilisation matérielle, économie et capitalisme, XVe-XVIIIe siècle“ (1979) und die darin enthaltenen Raumkonzepte vor. Braudel verweise auf den Zusammenhang zwischen Wirtschaftsordnungen und Formen der Raumnutzung und -aufteilung. Er postuliere die Existenz mehrerer begrenzter Wirtschaftsräume („économies mondes“) und die stetige Ausdehnung der kapitalistisch-europäischen „économie monde“ seit dem 16. Jahrhundert. Letztere kennzeichne beispielsweise die Verschiebung ihres Zentrums von Süd- nach Nordeuropa und die Handlungsfreiheit ihrer maßgebenden Akteure, welche gleichzeitig auf lokaler, nationaler und globaler Ebene aktiv sein könnten. Garner beurteilte die von Braudel aufgeworfenen Fragen als wichtige Referenzpunkte der Forschung, trotzdem dessen Kapitalismusbegriff einige Beschränkungen aufweise. Dazu verwies er auf die Auseinandersetzung mit Braudels Ansätzen bei herausragenden Theoretikern der Globalgeschichte, wie in Kenneth Pomeranz’ Theorie zur unterschiedlichen Entwicklung der europäischen und der asiatischen Wirtschaft („The Great Divergence“) und Immanuel Wallersteins „Weltsystemtheorie“.

Die anschließende Diskussion thematisierte einige Bedingungen für die Wirkkraft von historiographischer Forschung: Die Verfügbarkeit von Wissen sowie Erfahrungs- und Denkhorizonte beim Autor und seinen Zeitgenossen. In den Vordergrund rückten die Rezeptionshindernisse bezüglich Braudel’scher Texte unter deutschen Historikern der Nachkriegszeit und die unterschiedlichen Rezeptionskonjunkturen und Validitäten seiner Vorbilder beziehungsweise Einflussgrößen (wie Henri Pirenne, Johan Huizinga oder Vertreter der deutschen „Geopolitik“). Es wurde betont, dass Braudels historiographische Perspektive auch von seinem langjährigen Algerien-Aufenthalt geprägt gewesen, jedoch tendenziell eurozentrisch geblieben sei. Obwohl Braudel die von ihm gestellten Fragen nicht alle selbst habe beantworten können, so wurde insgesamt deutlich gemacht, liege die Bedeutung seines Werks in dessen anhaltender Inspirationskraft.

Konferenzübersicht:

Peter Schöttler (Paris, Berlin): Fernand Braudel und die Vermessung der Welt

Wolfgang Kaiser (Paris): Ein Blick zurück nach vorn. Braudel und die aktuelle Mittelmeerforschung

Guillaume Garner (Lyon): Capitalisme et espace chez Braudel

Anmerkung:
1 Fernand Braudel, Geschichte als Schlüssel zur Welt. Vorlesungen in deutscher Kriegsgefangenschaft 1941, Stuttgart 2013.


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Französisch, Deutsch
Sprache des Berichts